Es stehen wieder Bundestagswahlen in Deutschland an und es ist wieder einmal zu erwarten, dass sich die Politikverdrossenheit unverdrossen in der Wählerbeteiligung ausdrücken wird. Kommentar von Hermann: “In Australien ist es übrigens Pflicht, wählen zu gehen und Nichtwählen steht sogar unter Strafe”. Ich dazu: “Soviel zur freien Willensbekundung ;)”.
Woher kommt diese Politkverdrossenheit eigentlich? Es wurde und wird ja viel über die politische Beteiligungslosigkeit der Bevölkerung schwadroniert. Ich bin praktisch noch niemandem begegnet, dem es egal ist, was da draußen los ist. Allein die Wirkungslosigkeit der eigenen Wählerstimme wird oft bemängelt. Ich kenne sogar Personen, die sehr politisch sind, sogar politische Arbeit geleistet haben oder leisten – und dennoch z.B. nicht zur Bundestagswahl gehen. Was soll man dazu sagen?
Die kleine Wirkung unserer Wählerstimme.
Wenn es z.B. 2009 62,2 Mio Wahlberechtigte in Deutschland gab, von denen in dem Jahr 29 % nicht wählten, dann gab es circa 45 Mio. Wählerstimmen.
Wenn ich zur Wahl gehe, dann stimme ich für eine Partei, von der ich möchte, dass sie an die Macht kommt, aber sicher ist das nicht. Es besteht ein Risiko, dass meine Entscheidung sich nicht auswirkt. Deswegen ist zur Wahlgehen eine Entscheidung unter Risiko.
Um die Betrachtung zu vereinfachen tun wir einfach mal so, als hätten wir in Deutschland nur zwei Parteien: wir fusionieren in Gedanken einfach die zwei Parteien, die in Deutschland am liebsten miteinander gehen und nennen sie kurz 1 und 2. Angenommen wir bevorzugen Partei 2. Dann ist der Nutzen (N) zur Wahl zu gehen definiert über:
Nutzen zur Wahl zu gehen = w * R2 – R1
w: Wahrscheinlichkeit, dass meine Stimme den Ausschlag gibt
R2, R1: Erwarteter Nutzen aus der Regierungstätigkeit von 2 bzw. 1
Quelle: Strategisches Erststimmenwählen bei deutschen Bundestagswahlen Franz Urban Pappi Michael Herrmann
Man kann sich vorstellen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die eigene Stimme das Zünglein an der Waage ist recht, in der Regel sehr niedrig ist. Es ist also berechtigt, davon auszugehen, dass die eigenen Wirkung auf die Kontrolle “da oben” recht niedrig ist.
Wenn wir jetzt noch bedenken, dass der wahre Sachzusammenhang nicht so einfach ist, weil wir ja zusätzlich nicht genau wissen, was wir von den erwählten Parteien haben (ich will nicht behaupten, dass die Parteien in Deutschland nichts von dem tun, was sie versprechen, aber es deutete sich doch gelegentlich der Verdacht an, dass da etwas geschludert wird, *hust*).
Deswegen nicht wählen gehen? Würde ich nicht sagen. Ich würde aber sagen, dass wir unser mindestens einen Teil unseres Denkens und unsers Handelns auf unsere unmittelbare, unsere nahe Umgebung konzentrieren sollten.
Wagen wir doch einmal einen Vergleich.
Eine DIN A4 Normseite hat circa 1500 Zeichen. Wenn wir diese Normseite jetzt mit 45.000.000 Buchstaben (= Zahl der Wähler) füllen, dann entspricht das 200 Taschenbüchern mit 300 DIN-A5 Seiten Text (*). Klar lesen wir nicht einfach alle 200 Bücher, die gerade einmal irgendwo liegen. Sagen wir einmal, wir interessieren uns so grob für 40% der Bücher (= Buchstaben in den Büchern entsprechen der Zahl Wähler, die sich für meine Partei interessieren), das sind 80 Bücher. Nehmen wir an, wir sind eine richtige Leseratte und lesen sie alle (lesen also alle 4-5 Tage ein Buch). Am Ende des Jahres werden wir uns nur an die besonders wichtigen und interessanten 10% (wenn überhaupt) erinnern. Das wäre der Inhalt von 8 Büchern. Das wären dann 1,8 Mio. Buchstaben. Vergleicht man die Wirkung eines Buchstabens auf unseren Verständnis mit der Wirkung einer Wählerstimmen auf den Willen des Politikers, dann ist diese recht niedrig. Unsere Kontrolle aus der Ferne auf die Bundespolitik ist so eher gering. Heißt das nun auch, dass unsere Wirkung als Person insgesamt als niedrig zu bewerten ist?
(*) 45 Mio. Buchstaben / 1500 Buchstaben pro DIN A4- Seite = 30.000 DIN A4 Seiten, also 60.000 DIN A6. 60.000 DIN A6 Seiten / 300 Seiten = 200 Bücher (a 750 Buchstaben pro Seite)
Was uns interessiert.
Kommen wir noch einmal auf Inhalte zu sprechen. Wie geht das Gehirn vor, wenn es entscheidet, dass es Informationen benötigt? Ich bin kein Experte, aber ich merke mir selbst immer eher Sachen, die ein praktische Relevanz für die Themen und Tätigkeiten hat, die ich alltäglich zu erledigen habe. Ich behaupte, dass wir Menschen bei der Auswahl uns interessierender Inhalte grundsätzlich kontext-gesteuert sind. Wir also von dem Kontext beeinflusst werden, in dem wir uns selbst befinden – sprich von den Dingen, die uns alltäglich berühren – also von den Dingen, die uns näher sind als andere. Das gilt nicht nur für Themen, sondern insbesondere für Mitmenschen.
Die große Wirkung auf unsere Mitmenschen.
Menschen, welche wir kennen, begegnen wir viel differenzierter, aufmerksamer und zuvorkommender als Fremden. Zusätzlichen Einfluss hat die räumliche Distanz. Fällt einer bekannten Person neben uns eine Einkaufstüte auf den Boden und es rollen die Tomaten und Orangen heraus, bücken wir uns instinktiv, um beim Aufräumen zu helfen. Einer fremden Person in direkter Nähe helfen wir wahrscheinlich auch noch. Anders sieht es mit einer fremden Person in 10 oder gar in 50 Metern aus. Da denken wir uns allenfalls, wenn überhaupt, dass sich bestimmt gleich jemand (in dessen Nähe!) finden wird, der hilft. (Beispiel für inneren Dialog – wenn er überhaupt stattfindet: “Ich muss noch dringend Milch für das Müsli morgen besorgen, es hilft bestimmt gleich jemand anders dieser Person!”).
Wir sehen, dass unsere Anwesenheit, Aufmerksamkeit, Nähe und Verbindung zu Menschen einen entscheidenden praktischen Einfluss haben kann. Bedenkt man, dass ja auch Personen und nicht nur Einkaufstüten fallen können und, dass von Situation zu Situation die schnelle Hilfe (mitunter in Sekunden) von Mitmenschen über den Verlauf individueller Schicksale ganz entscheidend sein können (wenn man z.B. durch aufmerksames Handeln jemanden davor bewahrt, vor ein Auto zu laufen).
Lokal plus Wahl
Ich glaube wir sollten wählen gehen und ich glaube wir sollten Menschen in direkter Nähe wie auch Ferne helfen. Ich glaube aber, dass unsere Wirksamkeit prinzipiell in unserer Nähe größer ist – und das dafür unsere Verbindung zu unseren Mitmenschen entscheidend ist. Wir werden kaum mit jedem enge Freundschaft schließen können (das verbietet schon wieder die Menge der Buchstaben (= Zahl der Begegnungen) in den Büchern unseres Lebens), aber es ist eigentlich klar, dass unsere unmittelbare Umgebung viel direkter auf uns zurückwirkt, als dass, was “die da oben” machen (obgleich das sehr wohl auch sehr wichtig ist). Wenn uns heute 3 unbekannte Personen in der U-Bahn anlächeln oder unser Lächeln erwidern (ruhig mal ausprobieren!), dann wirkt sich das ganz entscheidend auf unsere Laune aus – mehr als das ferne Lächeln eines Spitzenpolitikers auf einem Plakat.
Ich möchte euch davon überzeugen, Verbindungen in der Nähe zu knüpfen und aktiv euer Umfeld zu gestalten. Trefft eure Nachbarn, indem ihr ein kleines Hausgrillen veranstaltet, stellt eine “Tauschbox” in den Flur, schaut einmal in einem Gemeinschaftsgarten vorbei oder geht in einen Verein für *was auch immer euch interessiert* um die Ecke. Geht wählen, aber versprecht euch nicht unendlich viel davon, Politiker sind auch nur Menschen (was weder Anschuldigung noch Entschuldigung sein soll) und tut euch gegenseitig vor Ort Gutes. Unsere Wirkung in der Nähe ist entscheidend für das Bild dieser Gesellschaft und für die empfundene Sicherheit und das Gemeinschaftsgefühl.
Wenn ihr hier im letzten Absatz zwischen den Zeilen gelesen habt ist euch schon aufgefallen, dass vieles was wir uns unter aktiven, demokratischen Bürgern vorstellen auch eine ökonomische Seite hat. Demokratie lebt vom Diskurs, der Vielfalt der Meinungen und Leuten, die etwas unternehmen. Genau diese Dinge sind in kleineren Einheiten (Unternehmen) viel einfacher möglich als in überregulierten Institutionen, die ja dann auch noch abhängig von einem einzelnen Einkommen machen. Demokratie und Unternehmertun hängen zusammen. Eine Demokratie mit vielen kleinen Unternehmen ist per se beweglicher als eine von Konzernen dominierte (was man an den “innovativen” politischen Konzepten der USA sehr gut sehen kann). Unternehmer interagieren mit den Bedürfnissen der Menschen, sind dadurch idealerweise resistenter gegen die Entrücktheit von der Realität der Bevölkerung, welche man in Regierungsapparaten und Konzernen häufig findet. Durch die Wahl, die der Unternehmer hat, ist er auch weniger erpressbar politisch motivierte Agenden durchzuführen und kann der Dominanz der Konzerne auf die öffentliche Meinung, Einfluss auf abhängig Beschäftigte und auf steuernde Organe entgegenwirken.